Zum linken Antisemitismus

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Zum linken Antisemitismus

Mit Wolfgang Kraushaar.

Jegliche Beurteilung antisemitischer Vorfälle nach 1945 kann nicht davon abstrahieren, dass die Judenfeindschaft zuvor in die schlimmste aller nur denkbaren Konsequenzen geführt hat – in die praktische Umsetzung der von staatlicher Seite intendierte und dann systematisch betriebene Vernichtung der europäischen Juden. Angesichts der unleugbaren Faktizität dieses Makroverbrechens wurde der Post-Holocaust-Antisemitismus mit einem Tabu belegt. Wer in der Bundesrepublik antisemitisch auftrat, der musste damit rechnen, angeprangert und womöglich strafrechtlich verfolgt zu werden. Um sich dem zu entziehen, sind allerdings rasch Semantiken entwickelt worden, mit denen die judenfeindlichen Affekte implizit weiter betrieben werden konnten und – wie die Affäre Aiwanger verrät – noch immer können. Dieser verbreiteten Praxis hat die Forschung mit dem Begriff des sekundären Antisemitismus Rechnung zu tragen versucht. Adorno sprach im selben Zusammenhang spezifischer noch von einem Schuldabwehrantisemitismus. Demnach tritt die Judenfeindlichkeit häufig in Gestalt einer Abwehrform auf. Das gilt insbesondere für die Linke, zwar nicht in ihrer Gesamtheit, aber zumindest für bestimmte Teile von ihr. Normativ betrachtet stellt die Rede vom linken Antisemitismus ja eigentlich eine Aporie dar. Manche meinen deshalb sogar, dass es ihn apriori gar nicht geben könne. In empirischer Hinsicht jedoch muss man sich eines Besseren belehren lassen.

Der Antisemitismus von links lauert, wie Jean Améry das bereits vor über einem halben Jahrhundert beklagt hat, wie das Gewitter in der Wolke. Seine am weitesten verbreiteten Varianten sind die Zionismus- und die
Israelkritik. Das aber macht die Kritik wie die Abwehr zu einer hermeneutischen Angelegenheit, zu einer Sache der Interpretation. Wodurch läuft die Kritik gegenüber einem Staat, der Einwänden gegenüber, zumal im Angesicht einer rechtsnationalen Regierung wie der Netanyahus, ja nicht sakrosankt sein darf, Gefahr, in eine antisemitische Haltung umzukippen?

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