Der 7. Oktober 2023, der Überfall der radikal-islamischen Hamas auf Israel, ist eine Zäsur – sogar in der Geschichte des an grauenvollen Ereignissen keineswegs armen Antisemitismus. Die globalen Wirkungen – eine Enthemmung der aggressiven Dämonisierung des Judenstaats und der Bedrohung jüdischer Menschen – sind auch in Hamburg zu spüren.
Antisemitismus bezeichnet Judenhass, d.h. eine auf Jüdinnen und Juden bezogene Praxis der Gewalt in Wort und Tat und deren gleichzeitiger Rechtfertigung. Im modernen Antisemitismus werden “die Juden” als (un-)heimliches, übermächtiges Gegenkollektiv erschaffen; dergestalt werden gesellschaftliche Krisen, anonyme Herrschaft, politische Ohnmacht personalisiert und weltanschaulich ‘erklärt’.[1]
Bundesweit ist die Zahl antisemitischer Vorfälle nach dem 7. Oktober dramatisch gestiegen.[2] In Hamburg machte Antisemitismus 2023 24% aller erfassten Fälle von Hasskriminalität aus – wobei weniger als 0,2% der Hamburger*innen jüdischen Glaubens sind. Im vierten Quartal hat sich die Fallzahl gegenüber dem Vorjahreszeitraum verfünffacht, auf 67 gegenüber 12 Fällen.[3] Zivilgesellschaftlich erhobene, aussagekräftige Daten, die das allen Erkenntnissen nach vorhandene große Dunkelfeld erhellen könnten, stehen für die breite Hamburger Öffentlichkeit nicht regelhaft zur Verfügung.[4]
[Anmerkung der Redaktion: Die von der digitalen Hinweisstelle memo erhobenen Daten bilden eine Grundlage für das Arbeiten der Hamburger Behörden und zivilgesellschaftlichen Stellen gegen Antisemitismus und werden an den Bundesverband RIAS sowie an den Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt übermittelt.[5]]
Die Wände und die Öffentlichkeit der Stadt geben gleichwohl einen Einblick. Auf Hauswänden und Laternen werden fortlaufend sog. pro-palästinensische Slogans, Aufkleber etc. platziert. Neben die seit Jahrzehnten obligatorischen nationalistischen Parolen wie “Free Palestine” treten immer wieder auch Israel dämonisierende, manifest antisemitische Bilder: So wurde auf St. Pauli z.B. nach dem 7. Oktober ein Graffito mit blutroten Handabdrücken platziert – eine Chiffre, die sich zustimmend auf den Lynchmord an zwei israelischen Soldaten zu Beginn der Selbstmordattentäter-Intifada ab 2000 bezieht.[6] Israelsolidarische oder auch nur antisemitismuskritische Botschaften, sogar Plakate, die an die von der Hamas festgehaltenen Geiseln erinnern, werden abgerissen, beschädigt oder übermalt.[7]
Jegliche israelsolidarische Kundgebung und antisemitismuskritische Veranstaltung hat mit Störungen und mit mindestens verbalen Bedrohungen zu rechnen: Im Anschluss an eine Solidaritätskundgebung mit Israel Mitte Oktober 2023 etwa wurden zwei Organisator*innen beschimpft, physisch angegriffen und eine israelische Fahne gewaltsam entwendet;[8] auf einer Podiumsdiskussion in den Bücherhallen Ende Januar 2024 wurden die jüdischen Diskutantinnen als “Nazis” und “KZ-Wächter” beschimpft und physisch bedroht.[9] Konkrete Positionierungen sind dabei zunehmend irrelevant: So war z.B. ein alternatives Musikfestival massiven Anfeindungen im Netz und international einem faktischen Boykott ausgesetzt, weil der Veranstalter als “Zionist” und “Gen0cide-Supporter” [sic!] markiert wurde.[10] Seit einigen Wochen konnte nach US-amerikanischem Vorbild von palästinensisch-nationalistischen Gruppen und Aktivist*innen ein “Protest-Camp” am Rande der Universität Hamburg etabliert werden. Aus dessen Umfeld kam es Anfang Mai im Anschluss an eine Vortragsveranstaltung in der Universität zu einem wohl spontanen, aber gezielten verbalen und physischen Angriff auf ein Vorstandsmitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.[11]
Nach einer kurzen Phase medialer Diskussion direkt nach dem 7. Oktober sind die Hamburger Schulen aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden. Die Zahl von Anfragen für Antisemitismus-Workshops an Akteure der politischen Bildung ist jedoch seither weiter gestiegen[12] und zumindest an einigen Schulen ist das Niveau der Vorfälle hoch, bis hin zu demonstrativer Verherrlichung des antisemitischen Massenmords und der Bedrohung engagierter Lehrkräfte.[13]
Wie sich deutlich zeigt, eröffnet die Dynamik der Ereignisse, bis hin zum grausamen Kriegsgeschehen in Gaza und dessen medialer Dauerpräsenz, auch in Hamburg Möglichkeitsräume und Gelegenheitsstrukturen. Gefüllt und genutzt werden diese ebenso im alltäglichen Umgang vom entfernten Social Media Kontakt oder dem Arbeitskollegen (“DIE bringen immer Kinder um”)[14] wie von öffentlichen Akteuren.
Antisemitismus tritt in allen gesellschaftlichen Schichten und politischen Spektren auf. Der Aussage, Israel mache mit den Palästinensern dasselbe wie die Nazis mit den Juden, stimmte 2022 43% der Bevölkerung zu.[15] Gleichwohl sind es bestimmte Milieus, die gegenwärtig eine hervorgehobene Rolle spielen. Namentlich sind dies islamistische Milieus, Teile der extremen, autoritären Linken sowie aktivistische, selbsterklärt “pro-palästinensische” Kreise. Die Chiffre “Palästina” sowie Israelhass und Antisemitismus dienen hier – in jeweils unterschiedlicher Weise – als Agitationsmittel, die einen großen emotionalen Rückhall in postmigrantischen und/oder aktivistischen Milieus versprechen, v.a. unter Jugendlichen und bis in die bürgerlich-liberale Mitte hinein.
Vorfeldorganisationen der islamistischen Hizb ut-Tahrir hatten bereits kurz nach dem 7. Oktober in St. Georg eine “spontane” anti-israelische Kundgebung organisiert. Über Social Media als Bilder der Stärke inszeniert, sollen darüber Anhänger mobilisiert und Sympathisanten für eine islamistische, demokratiefeindliche Agenda gewonnen werden.[16] Autoritär-linke, “rote” oder “kommunistische” Gruppen veröffentlichten zügig Israel dämonisierende Statements (“Israel ist der Terrorist” u.ä.) und agitieren entsprechend. Die Bündnisdemo dieses Spektrums zum 1. Mai 2024 wurde weitgehend von palästinensisch-nationalistischen Parolen und Symbolen dominiert.[17] Neben der Mobilisierungswirkung dient diese Positionierung als Instrument in einer innerlinken Auseinandersetzung mit anti-autoritären Strömungen um Einfluss, Deutungen (v.a. von Antisemitismus) und Kontrolle von Räumen.
Gegenüber den islamistischen und autoritär-linken Gruppen ist das als aktivistisch umschriebene Milieu deutlich heterogener in Zusammensetzung und Ausrichtung. Anders als diese kann man eine Wirkung in die weitere politische Öffentlichkeit hinein entfalten. Dies gilt für organisierte Gruppen der “Palästina-Solidarität” wie Thawra, die i.d.R. länger etabliert sind und zumindest ideologisch auch Überschneidungen mit den zuvor beschriebenen Gruppen aufweisen. Sie betreiben Kampagnenpolitik und radikalisieren sich in widerspruchsfreien Echokammern wie dem “Protest-Camp”. Eine wesentliche Zielgruppe ist ein weiteres, eher diffuses, formal unorganisiertes, aktivistisch-künstlerisches Milieu von Personen an oder im Umfeld von Kulturinstitutionen oder Hochschulen, die sich mehrheitlich als links oder linksliberal verstehen würden. Im Fokus standen in jeweils anderer Weise die Hochschule für bildende Künste Hamburg (HfbK), das Kulturzentrum Kampnagel und neuerdings die Universität Hamburg.
Der Kampagnenpolitik im Sinne eines undifferenzierten, kompromisslosen palästinensischen Nationalismus wird im weiteren künstlerisch-aktivistischen Milieu von einer Haltung Raum gegeben, in der das Ressentiment gegen Israel (als Schlagwort: “die Israelkritik”) affektiv verankert ist. Durchaus auch aufgrund dieser jahrzehntealten nationalistischen Kampagnen wie des entsprechenden Erbes der Neuen Linken nach 1968, fungieren die “Israelkritik”, der “Anti-Zionismus”, die Dämonisierung Israels als ein kultureller Code, wie dies die Historikerin Shulamit Volkov benannt hat, d.h. als “Erkennungszeichen der Zugehörigkeit zu einem bestimmten, subkulturellen Milieu” und einer emotionalisierten moralisch-politischen Haltung: Im Mittelpunkt stünden nicht die tatsächlichen Fragen, sondern “der symbolische Wert, ihnen gegenüber einen Standpunkt zu beziehen.” Und nicht erst heute seien global anscheinend “die Juden oft zum Symbol für all das geworden […], was man am Westen gehaßt und verabscheut hat”: namentlich Kolonialismus, Nationalismus und Rassismus, Ausbeutung, Ausgrenzung und Unterdrückung.[18]
Dämonisierender Israelhass muss nicht selbst propagiert werden, sondern dessen Normalisierung als ein kultureller Orientierungspunkt ist das entscheidende Moment, wie sich z.B. anhand des Klimafestivals im Januar auf Kampnagel zeigte.[19] In diesem kulturellen Klima aus offener Aggression und bestenfalls verunsicherter Derealisierung[20] angesichts eines “kontroversen Themas” – Antisemitismus und ein politisch komplexer, historisch aufgeladener Konflikt – bilden sich Möglichkeitsräume und Gelegenheitsstrukturen, die ein Medium von Judenhass in der Gegenwart darstellen.
Aufrufe zu Gewalt gegen Jüdinnen*Juden, Israelis, “Zionisten” – auf Social Media oder zumindest einigen Hamburger Schulhöfen immer weniger codiert zu hören – sind dabei ein Moment. Entscheidender ist die Derealisierung und Konsequenzlosigkeit der für sich sprechenden Taten und Tatsachen, der Debatte über den “Antisemitismusvorwurf” statt den Antisemitismus, und die Verweigerung von Empathie gegen die Erfahrungen von Jüdinnen und Juden. Entscheidender ist das Misstrauen, das entsteht wo die immer hemmungslosere Aggression ihre Ziele – Jüdinnen und Juden; Akteure, die sich gegen Antisemitismus und Israelhass positionieren; beliebige Festivalveranstalter, die ein unterwerfendes Bekenntnis verweigern – mit belastet. In diesem kulturellen Klima prägt sich Antisemitismus als sog. sekundärer aus, als Entlastungs- oder Schuldabwehrantisemitismus: Die Opfer werden für Gewalt, Hass und Verfolgung, die auf sie gerichtet werden, verantwortlich gemacht. Oder wie der Soziologe Detlev Claussen sarkastisch formulierte: “Unter Antisemitismus wird eine unberechtigte Aggression gegen Juden verstanden; aber berechtigte Angriffe sind denk- und artikulierbar geworden.”[21]
Die Wände und Räume der Stadt sind ein passendes Bild für das, was heute Antisemitismus heißt, die aktuellste Rechtfertigung von antijüdischer Aggression in Wort und Tat: Von jeder Wand muss es herunter schreien. Jeder Raum soll mit der absoluten Gewissheit besetzt werden. Nichts Abweichendes mag noch ertragen werden. Der sich stetig selbst radikalisierende, kompromissunfähige, hoch emotionalisierte Modus der anti-israelischen Camps, Graffitis, Kampagnen und Bekenntnisse enthält das Ressentiment gegen Geist, Dialog und Reflexion und zwingt die unübersichtliche Welt in sein eindeutiges Schema von Gut und Böse.
Man wäge genau ab, wo man hingehe, berichtet eine Hamburger Jüdin der taz: „Ich frage mich: Wann werde ich angegriffen?“[22] Die allgegenwärtige, Israel dämonisierende Propaganda, die Vereinnahmung des Raums der Stadt, das kulturelle Klima erzeugen für Jüdinnen und Juden eine Atmosphäre der Bedrohung und des Ausschlusses von Orten ihres Alltags. Gegen die allzu breit akzeptierte, falsche Wahrnehmung zweier kompromiss- und dialogunfähiger “Gegner” ist festzuhalten: Während die einen selbsterklärt für ein politisches Anliegen eintreten, wollen Jüdinnen und Juden einfach in Sicherheit in ihrer Stadt leben.
Der Autor dankt Janne Misiewicz und Olaf Kistenmacher.
Florian Hessel (Hamburg) ist Sozialwissenschaftler und Publizist sowie Lehrbeauftragter der TU Hamburg. Er ist als Referent und wissenschaftlicher Berater in der politischen Bildung und Antisemitismusprävention tätig und Gründungsmitglied von Bagrut e.V. Verein zur Förderung demokratischen Bewusstseins (www.bagrut.de).
[1] F. Hessel (2021): Notizen zur Frage “Was heißt Antisemitismus?”. Hinsehen, 5-7. 0cn.de/tvx5; IHRA (2016): Arbeitsdefinition Antisemitismus. 0cn.de/ASdef
[2] Bundesverband RIAS (2024): Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2023. 0cn.de/RiAS24; K. Schipkowski (2024): Antisemitismus auf Höchststand. taz. 0cn.de/i3b5
[3] Hamburgische Bürgerschaft: Drucksachen 22/14135; 22/12173.
[4] F. Hessel (2023). Hamburger Dunkelfelder. Jungle World. 0cn.de/dnKL
[5] Vgl. Bundesverband RIAS, s.o.; VBRG (2024): Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt in Deutschland 2023. 0cn.de/vbrG24
[6] Auskunft eines Anwohners, Januar 2024
[7] F. Hessel (2023): Selbsterklärende Tat. haGalil. 0cn.de/dxh0
[8] NDR (2023): Angriff nach Solidaritätsdemo für Israel. 0cn.de/klfl
[9] Eigene Beobachtung
[10] G. Sprügel (2024): Antizionistische Investigativrecherche. Jungle World. 0cn.de/kyy1
[11] T. Kroll (2024): “Da kam schon die Faust von oben”. DIE ZEIT. 0cn.de/vnch
[12] Eigene Beobachtung
[13] Gespräch mit Harburger Lehrer*in, Mai 2024
[14] Eigene Beobachtungen
[15] Bertelsmann Stiftung (2023): Antisemitismus, Rassismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt. 0cn.de/brtL
[16] NDR (2024): Islamismus-Experte fordert “klare Haltung aus der muslimischen Community”. 0cn.de/xqqf
[17] I. de Vincenzi, u.a. (2024): Pyro, Pöseldorf, Pro-Palästina. Hamburger Morgenpost. 0cn.de/43qx
[18] S. Volkov (2000): Antisemitismus als kultureller Code, München, S. 84ff. – Ähnliches gilt auch für einige postmigrantische, stärker türkisch- oder arabisch-nationalistisch geprägte Milieus. Hier verbindet sich der einigende, dämonisierende Israelhass mit Ressentiments gegen Minderheiten wie Kurd*innen oder Yezid*innen.
[19] L. Betzler (2024): Vom Antisemitismus übertönt. Untiefen. 0cn.de/untf
[20] Derealisierung bezeichnet hier die Wirklichkeit eines Geschehens entlastend beiseite zu schieben.
[21] D. Claussen (2005): Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt/Main, S. XIV.
[22] Zit. n. Schipkowski, s.o.