12. Dezember 2023

Philipp Dorestal: Sozialdarwinismus, die unterschätzte Ideologie gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit

Während bei Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie Rassismus oder Antisemitismus die Einsicht in die Notwendigkeit, sich damit auseinandersetzen, auch in weiten Teilen der Gesellschaft immer mehr durchsetzt, so ist dies für den Komplex Sozialdarwinismus noch nicht im gleichen Maße der Fall. Erst in den letzten zehn Jahren lässt sich eine stärkere Beschäftigung mit dem Thema Sozialdarwinismus feststellen, die sich auch in Publikationen niedergeschlagen hat. [z.B. Lotta 2013, Teidelbaum 2013] In diesem Text soll deshalb die Relevanz der sozialdarwinistischen Ideologie herausgearbeitet und gezeigt werden, wie stark diese aktuelle gesellschaftliche Diskurse prägt.

Ich beginne dafür mit einer Begriffsklärung und skizziere kurz die historische Entstehung der sozialdarwinistischen Ideologie. Danach zeige ich exemplarisch anhand der Abwertung von (Langzeit-)Arbeitslosen, Wohnungslosen und Menschen mit Behinderungen, wie sich Sozialdarwinismus gegen gesellschaftlich marginalisierte Gruppen richtet.

Manuela Lenzen definiert Sozialdarwinismus wie folgt. „`Sozialdarwinismus` stand die längste Zeit für ein glücklicherweise vergangenes Phänomen: für Versuche, die Entwicklung von Gesellschaften und sozialen Verhältnissen als „Kampf ums Dasein“ (struggle for existence) zu beschreiben, in dem nur die Besten, die Stärksten oder Erfolgreichsten überleben (survival of the fittest). Inzwischen ist der Begriff zurück: er bezeichnet eine menschenverachtende Perspektive auf Randgruppen der Gesellschaft und sozial Schwächere.“ (Lenzen 2015)

Historisch bildete sich der Sozialdarwinismus im 19. Jahrhundert heraus und ist mit den Namen Herbert Spencer (1820-1903), einem englischen Philosophen und Ernst Haeckel (1834-1919), einem deutschen Zoologen verbunden. Ersterer prägte den Begriff „survival of the fittest“ also das Überleben des Stärkeren, und versuchte damit Darwins Theorie der natürlichen Selektion von der Pflanzen- und Tierwelt auf die menschliche Gesellschaft zu übertragen. Spencer lehnte ein Sozialsystem ab, weil dies angeblich den natürlichen Ausleseprozess verfälschen würde und dazu beitrüge, dass depreviligierte Menschen sich weiter vermehren könnten. Auch Ernst Haeckel argumentierte in diese Richtung. Es kristallisiert sich hier ein Diskursmuster heraus, welches die sozialdarwinistische Ideologie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen kennzeichnet: Es wird eine Biologisierung des Sozialen vorgenommen und soziale Ungleichheit als gerecht und naturgegeben postuliert, soziale Fördermaßnahmen hingegen werden als die natürliche Ordnung verfälschend eingeordnet und seien deshalb abzulehnen.

Sozialdarwinistische Ressentiments richten sich häufig gegen gesellschaftlich marginalisierte Gruppen wie Langzeitarbeitslose, Wohnungslose und Menschen mit Behinderungen, die im Folgenden genauer in den Blick genommen werden sollen.

(Langzeit-)Arbeitslosigkeit

Festzuhalten sind bei der Abwertung von Langzeitarbeitslosen mehrere Punkte: Langzeitarbeitslosigkeit wird in einer vorurteilsbeladenen Weltsicht nicht als gesellschaftliches Phänomen und als der schwierigen Situation auf dem Arbeitsmarkt geschuldet erkannt, die eine Vollbeschäftigung nicht möglich macht. Vielmehr wird Langzeitarbeitslosigkeit als individueller Unwillen und als Verweigerungshaltung interpretiert, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Sie wird damit zu einem individuellen Problem verklärt, und die gesellschaftliche Dimension des Problems verschwindet.

Ressentiments gegenüber Langzeitarbeitslosen sind ein integraler Bestandteil extrem rechter Ideologie, finden sich besonders häufig vertreten jedoch auch bei politischen Repräsentant:innen und Bürger:innen, die sich politisch in der Mitte verorten würden. Als Beispiel kann hier der ehemalige Berliner Finanzsenator und SPD-Politiker Thilo Sarrazin herangezogen werden, der in Interviews sowie in seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ [Sarrazin (2010)] nicht nur rassistische Thesen vertritt, sondern auch Vorurteile gegenüber Menschen ohne Erwerbsarbeit ventiliert, wenn er von einer „weitgehend funktions- und arbeitslosen Unterklasse“ spricht.

Abwertung gegenüber Obdachlosen

Die Gruppe der Menschen ohne festen Wohnsitz wird häufig zur Zielscheibe rechtsextremer Gewalttaten. Aufgrund ihrer Wohnsituation sind Wohnungslose besonders verletzlich, sind sie doch im öffentlichen Raum wahrnehmbar und ohne gesicherten Rückzugsort. In der seit 1990 von der Amadeo Antonio Stiftung geführten Statistik von durch rechte Gewalt ums Leben gekommenen Menschen sind Wohnungslose eine signifikant große Opfergruppe. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegenüber Wohnungslosen muss nicht in die Extremform einer Gewalttat münden, sondern diese äußert sich häufig bereits in Ablehnung und Vorurteilen. Geteilt wird diese Ablehnung nicht nur von explizit rechtsextremen Gruppierungen, sondern diese findet sich auch in der Mitte der Gesellschaft. Im GMF-Survey stimmten der Aussage „Die Obdachlosen in den Städten sind mir unangenehm“ 33 Prozent zu. Diese hohe Zahl macht deutlich, dass eine Ablehnung von Wohnungslosen in einem Drittel der deutschen Bevölkerung manifest ist, und diese offen zugegeben wird. 34 Prozent sahen den Satz „Die meisten Obdachlosen sind arbeitsscheu“ als zutreffend an. [Zick/ Küpper (2007): 226]. Aus der Affirmation dieser Aussage lässt sich schließen, dass die prekäre Lebenssituation von Wohnungslosen als selbst gewählt konstruiert wird; die Schwierigkeit, eine Arbeit zu bekommen, wenn man über keinen festen Wohnsitz verfügt, wird negiert und stattdessen die gesamte Gruppe der Wohnungslosen als arbeitsunwillig stigmatisiert.

Abwertung von Menschen mit Behinderungen

Die Abwertung von Menschen mit Behinderungen ist ein integraler Bestandteil extrem rechter Ideologie. Diese Gruppe ist, ebenso wie die der Wohnungslosen, in der Vergangenheit vermehrt Opfer rechter Gewalttaten geworden. Diese Form der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hat eine lange Tradition in der Geschichte Deutschlands. Das Euthanasieprogramm der Nationalsozialist:innen ist ein besonders extremes Beispiel, welche Ausmaße und mörderische Konsequenz die Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen entwickeln konnten. Die Nationalsozialist:innen begannen schon gleich zu Beginn ihrer Herrschaft mit der systematischen Umsetzung ihrer „rassenhygienischen“ Vorstellungen, die auf Menschen mit Behinderungen abzielten und diese aus der „Volksgemeinschaft“ entfernen und eliminieren wollten. In der sozialdarwinistischen Ideologie werden Menschen mit Behinderungen als „Abweichung“ konstruiert, die nicht in das gesellschaftliche Bild von „Normalität“ und Gesundheit passen. Hierin besteht die Verbindung der Abwertung von Menschen mit Behinderungen zu extrem rechten Ideologien.

In der Leipziger Autoritarismus Studie von 2020 werden sozialdarwinistische Einstellungsmuster explizit abgefragt. Es wird zwischen latenten und manifesten Einstellungsmustern unterschieden sowie zwischen Ost und West. Die Aussage „Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen“, erhält eine Gesamtzustimmung von 18,6 % (latent) bzw. 7,7% (manifest). Der Aussage, „es gibt wertvolles und unwertes Leben“, also einem Satz, der unverhohlen die nationalsozialistische Selektions- und Vernichtungspolitik anklingen lässt, wurde insgesamt von 12,8% latent und 6,1 manifest zugestimmt. [Decker/Brähler (2020)] Es gibt also weiterhin einen signifikant großen Teil der deutschen Bevölkerung, der sozialdarwinistische Überzeugungen hegt.

Corona und Sozialdarwinismus

Die Corona-Pandemie, die ab März 2020 das gesellschaftliche Leben auf der gesamten Welt zum Erliegen brachte, ist in Bezug auf sozialdarwinistische Denkweisen höchst aufschlussreich. Denn die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wurden nicht nur höchst kontrovers diskutiert, sondern Kritik an den Maßnahmen traten immer wieder auch gepaart mit sozialdarwinistischen Argumentationsweisen auf. So wurde beispielsweise hinterfragt, ob eine pandemiebedingte Einschränkung der Wirtschaft Sinn mache, wenn dafür Alte und Kranke geschützt würden. [Löhr (2023)] Menschen, die prinzipiell Kritik an Schutzmaßnahmen zur Pandemiebekämpfung hegten, teilen oftmals sozialdarwinistische Überzeugungen. In einer Studie über die Querdenker:innenbewegung zeigten beispielsweise 60 oder mehr Prozent derjenigen, die sich gegen Masken und Impfungen aussprachen zumindest teilweise Zustimmung zu sozialdarwinistischen Aussagen. [Nachtwey/Walther (2023)]

Dieser kurze Überblick über aktuelle Ausprägungen sozialdarwinistischen Denkens hat gezeigt, dass sozialdarwinistische Überzeugungen kein gesellschaftliches Nischendasein führen, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft anzutreffen sind. Umso wichtiger ist eine verstärkte Auseinandersetzung mit und kritische Aufmerksamkeit für Sozialdarwinismus.

Dr. Philipp Dorestal ist Historiker und Referent für Gleichstellung und Diversity Management.

 

Literatur

Decker, Oliver/Brähler, Elmar (Hg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus-Studie 2020, Gießen.

Gross, Eva/Gundlach, Julia/Heitmeyer, Wilhelm (2010): Die Ökonomisierung der Gesellschaft. Ein Nährboden für Menschenfeindlichkeit in oberen Status- und Einkommensgruppen, Frankfurt/Main, 138-157.

Heitmeyer, Wilhelm (2006): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Gesellschaftliche Zustände und Reaktionen in der Bevölkerung aus 2002 bis 2005, in: ders. (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 4, Frankfurt/Main, 15-36.

Heitmeyer, Wilhelm/Endrikat, Kirsten (2008): Die Ökonomisierung des Sozialen. Folgen für „Über-flüssige“ und „Nutzlose“, in: Heitmeyer, Wilhelm:  Deutsche Zustände. Folge 6, Frankfurt/Main, 55-72.

Heitmeyer, Wilhelm/Mansel, Jürgen (2008): Gesellschaftliche Entwicklung und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Unübersichtliche Perspektiven, in: ders.: Deutsche Zustände. Folge 6, Frankfurt/Main, 13-35.

Kohlmann, Elke (2011): „Die Ökonomie lügt doch … und zur Hölle mit Goethe. Sarrazinscher (Post-)-Rassismus in Zeiten neoliberaler Gouvernementalität, in: Friedrich, Sebastian (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“, Münster, S. 162-181.

Lotta. Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen. Heft 51 (Frühjahr 2013): Sozialdarwinistische Zustände. Wohnungs- und Obdachlose als vergessene Opfer rechter Gewalt

Löhr, Julia (2020): Geld oder Leben? Das Virus kostet Menschenleben – eine Rezession birgt aber auch große Gefahren. Was wiegt schwerer, und was folgt daraus? Deutschland steht eine heikle Debatte bevor, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.03.2020.

Nachtwey, Paul/Walther, Eva (2023): Survival of the fittest in the pandemic age: Introducing disease-related Social-darwinism, in: Plos One, https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0281072

Sarrazin, Thilo (2010): Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München.

Teidelbaum, Lucius (2013): Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus, Münster.

Zick, Andreas/Küpper, Beate (2007): Anknüpfungspunkt: Obdachlosenabwertung – Unerwartete Grup¬pen auf der Straße, in: Heitmeyer, Wilhelm: Deutsche Zustände. Folge 5, Frankfurt/Main, 226-227.

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